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Auch Wirtschaftsflüchtlinge sind politische Flüchtlinge

In der Diskussion werden immer politische Flüchtlinge und Wirtschaftsflüchtlinge gegeneinander ausgespielt: Politisch Verfolgte würden wir ja eh nehmen, die haben einen Anspruch auf Asyl – aber leider, leider geben sich daher so viele Wirtschaftsflüchtlinge als politisch verfolgt aus, da muss man genau und hart prüfen. So in etwa geht die Geschichte.

Akzeptieren wir das mal als Ausgangspunkt: Politisch Verfolgte stehen außer Streit, reden wir hier nur über Wirtschaftsflüchtlinge. Von EmigrantInnen, wie es sie immer schon gab. Von Menschen, die ein besseres Leben haben wollen. Ein. besseres. Leben. Reden wir da wirklich von Kriegsschiffen und Militärhubschraubern, von Lagern und Verhören? Das tun unsere Regierungschefs auf den Gipfeln. Sie reden darüber, wie sie diese Menschen abfangen, bevor sie ertrinken. Worüber sie nicht reden: Was man tun kann, damit diese Flüchtlinge gar nicht fliehen müssen. Es sind Wirtschaftsflüchtlinge, also müssten sie über Wirtschaftspolitik reden.

Die EmigrantInnen

EmigrantInnen gehen in Länder, in denen sie bessere Chancen haben. Der naheliegende Verdacht, dass sie von armen in reiche Länder auswandern, ist aber nicht ganz richtig. China und Indien sind relativ arm und haben Milliardenvölker und stellen nur noch einen geringen Teil der internationalen EmigrantInnen. Noch vor zwei Generationen sind dort die Menschen ausgewandert, jetzt bleiben sie. Beide Länder boomen. Sie sind immer noch viel ärmer als Europa, aber sie bieten Chancen. Unter den zehn Staaten mit dem höchsten Wirtschaftswachstum fanden sich im Vorjahr sechs afrikanische Nationen, wenn auch von sehr niedrigem Niveau ausgehend. Aus diesen Ländern steigt kaum jemand auf ein überladenes Schiff, um im besten Fall in einem Lager zu landen.

Wirtschaftsflüchtlinge wandern nicht von armen in reiche, sondern von ärmer werdenden in reicher werdende Länder. Um diese Dynamik geht es. Während der großen Auswanderungswellen über den Atlantik war Europa absolut gesehen immer noch reicher als die USA. Aber dort lagen die Chancen.

So ist es auch jetzt: Europas Wirtschaft mag im fünften Jahr einer Krise stecken, aber immer noch fließt Wohlstand aus Afrika und Asien hierher – in Form von Unternehmensgewinnen und Kapitalerträgen. Alle Vermögensstatistiken zeigen diese Entwicklung zweifelsfrei:  Europa, Nordamerika und Australien saugen Kapital an – dass es innerhalb dieser Länder nicht auf alle verteilt wird und auch nicht im BIP aufscheint, trägt zum Verbergen dieser Tatsache bei. Das Kapital fließt also von Afrika und Asien nach Europa, und die Menschen wandern daher in dieselbe Richtung. Also was tun?

Die unnötige Schuldfrage

Mit einer Sache sollten wir uns nicht aufhalten: Mit einer Lösung der moralischen Schuldfrage. Ja klar, (post-)koloniale Strukturen, heimische Korruption, ausbeuterische Eliten, kulturelle Unterschiede, Ressourcenarmut, kaputte Bildungssysteme ... all das kann eine Rolle spielen. Und Europa kann vieles davon nicht ändern.

Die Sache ist so: Wenn ich mit dem Auto fahre, und ein Mensch läuft plötzlich quer über die Straße, dann bremse ich, um ihn nicht zu rammen. Ich frage nicht erst, warum er über die Straße läuft ... ich will ein Menschenleben retten, also bremse ich.

Europa sollte sich auch so verhalten. Wenn Menschen auf der Flucht krepieren, ist zweitrangig, welche Rolle ihre Regime, ihre Eliten oder ihre koloniale Vergangenheit spielen – wichtig ist, ob Europa jetzt etwas tun kann, um das zu ändern. Darum geht's.

Als Beispiel: Die Textilindustrie

Mitte Oktober war ich in Goldegg bei den Herbstgesprächen und habe einige wunderbare Vorträge gehört. Unter anderem von einer Dame, die ein eigenes Modelabel gegründet hat und unglaublich putzige Kinderkleidchen aus alten Herrenhemden recycelt. Natürlich konnte der verliebte Bobo-Papa in mir nicht widerstehen, und ich habe meiner Principessa so ein Kleidchen mitgebracht. Um 50 Euro.

Wenige Tage später begann in Bangladesch ein Generalstreik damit, dass ein 22-jähriger Arbeiter von der Polizei erschossen wurde. Wieder einmal. Rund 150 DemonstrantInnen wurden in diesem Jahr schon bei den Protesten getötet.

Die Unruhen brachen vor Monaten aus, als eine Textilfabrik einstürzte und mehr als 1000 ArbeiterInnen tötete. Die Forderungen lauten: bessere und sicherere Arbeitsbedingungen – und ein höherer Mindestlohn. Der liegt in Bangladesch bei 28 Euro pro Monat. Dafür gibt's keine Sozialleistungen, keinen Urlaub, keinerlei Absicherung. Schwangere Mädchen arbeiten bis zur Entbindung am Webstuhl und wenige Stunden danach wieder. In den neun Monaten ihrer Schwangerschaft verdienen sie gerade genug, um fünf in Österreich recycelte Kinderkleidchen kaufen zu können. Wie viele tausend stellen sie in dieser Zeit her?

Vor 25 Jahren hatte Österreich noch eine richtige Textilindustrie, nicht nur kleine Liebhaber-Designer-Labels. Ich ging in eine der größten HTLs des Landes, da gab es vorwiegend Textilabteilungen. Da wurden hunderte SchülerInnen in der industriellen Fertigung von Strickerei-, Wirkerei-, Weberei- und Was-weiß-ich-was-für-Produkten ausgebildet. Es gab eine Abteilung für Modedesign und eine für Textilkaufleute. Alles weg. Diese Industrie ist aus Österreich de facto verschwunden.

In Asien wird billiger produziert, das ist halt so. Deshalb hat auch Großbritannien, das Mutterland des Kapitalismus, seine heimische Textilindustrie die längste Zeit mit hohen Importzöllen geschützt. Die Briten machen das auch nicht mehr, diese Industrie ist dort ebenso verschwunden wie in Österreich.

Das folgt der Idee des Freihandels: Arbeitsteilung ist effizient, also schaffen wir weltweite Arbeitsteilung, das ist noch effizienter, und am Ende geht es allen besser. So die Theorie. Wenn die Arbeit aus Bangladesch nachgefragt ist, werden die Löhne dort steigen. So die Theorie. Denn die ArbeiterInnen werden ja eine gute Verhandlungsposition haben. So die Theorie. Leider kommen Tränengas, Bambusknüppel und scharfe Munition in der Theorie nicht vor, nur in der Praxis. Da gibt es kein faires Spiel von Angebot und Nachfrage am globalen Arbeitsmarkt.

Die Löhne in den Entwicklungsländern steigen nicht nur nicht, sie sinken teilweise sogar, weil sich diese Länder nun in einem globalen Wettlauf nach unten befinden. Das bestuntersuchte Beispiel dafür ist Mexiko: Seit es in eine Freihandelszone mit den USA und Kanada eingetreten ist, wurden massenhaft Arbeitsplätze aus dem Norden südlich des Rio Grande verlegt. Dort steigen die Löhne aber nicht – wenn die MexikanerInnen mehr fordern, wandern die Betriebe nach China weiter. Das ist keine linke Analyse, sondern eine von Investmentberatern.

Diese Weltwirtschaftsordnung schafft keine Chancen in der Dritten Welt. Und das ist kein natürlicher Zustand, sondern ein politisch geschaffener. Wirtschaftsflüchtlinge sind in diesem Sinne immer auch politische Flüchtlinge.

Hoffnung schaffen

Also müssen wir unsere globalen Wirtschafts- und Handelsabkommen ändern: Das Ziel muss sein, den Menschen in Entwicklungsländern Chancen zu geben. Und damit Hoffnung.

Das geht zum Beispiel mit Zöllen. Nicht mit den Schutzzöllen von früher, sondern mit einem abgestuften System, das Wettbewerbsnachteile für niedrige Sozialstandards schafft. Du produzierst in einem Land, das Kinderarbeit erlaubt, und willst nach Europa exportieren? 30 Prozent Zoll. Keine bezahlte Karenzzeit? Nochmal 30 Prozent. Gewerkschaften verboten? Nochmal 30 Prozent. Und so weiter. Dazu braucht es ein abgestuftes System, die Anreize müssen so gesetzt werden, dass es ein Standortvorteil wird, Verbesserungen einzuführen und den Zöllen zu entgehen.

Das funktioniert nicht? Zu kompliziert? Ein neomarxistischer Vorschlag?

Doch, es geht ganz leicht, die EU hebt jetzt schon gestaffelte Zölle ein: niedrige Aufschläge auf Rohstoffe, mittlere auf Halbfertigprodukte, hohe auf hochwertige Fertigprodukte (Textilien zählen da nicht dazu).

Da die ärmsten Entwicklungsländer kaum technisch hochwertige Produkte herstellen, "hilft" ihnen die EU mit verringerten Zöllen dort, wo ihre Stärken liegen, also bei den Rohstoffen. Das ist die freundliche Darstellung.

Man kann es aber auch so sagen: Europäische Industriekonzerne dürfen sich praktisch zollfrei mit Rohstoffen eindecken, die in der Dritten Welt kostengünstig unter Arbeitsbedingungen gewonnen werden, die in Europa längst der Vergangenheit angehören. Gleichzeitig werden ihnen am europäischen Markt die Konkurrenten vom Leib gehalten.

Derart gestaffelte Zölle führen jede Entwicklungshilfe ad absurdum. Ein an Sozial- und Umweltstandards orientiertes System dagegen wäre die beste Chance für Menschen in Asien und Afrika.

Es geht

Das ist machbar, es erfordert aber politische Zähigkeit. Im Bereich der Landwirtschaft ist in den letzten zehn Jahren Vergleichbares gelungen. Europäische KonsumentInnen bevorzugen Fleisch von der Hühnerbrust, andere Körperteile wie Flügel und Beine werden deutlich weniger nachgefragt. Was also damit tun? Den Rest schickt man nach Afrika, zerlegt, tiefgefroren – und bisher gut subventioniert. So kam es, dass vor 10 Jahren ein Kilogramm Hühnerfleisch aus der EU im Senegal um 0,82 Euro verkauft werden konnte, während lokale KleinbäuerInnen beinahe 2 Euro verlangen mussten, um kostendeckend arbeiten zu können.

Allein im Jahr 2002 haben daher 40 Prozent der senegalesischen Hühnerfarmen ihren Betrieb ein- oder umgestellt. In der Elfenbeinküste waren es 25 Prozent. Und warum erließen die Regierungen dort keine Schutzzölle, um ihre heimischen BäuerInnen zu schützen? Ganz einfach: weil das laut Freihandelsabkommen mit Europa nicht erlaubt ist. Das bedeutet "Exportmärkte öffnen" manchmal.

GlobalisierungskritikerInnen, AgrarökonomInnen, EntwicklungshelferInnen liefen Sturm gegen dieses System. "Ihr habt keine Chance", hörten sie oft. Die Ausfuhrhilfen für Agrarprodukte wurden in der EU in den 70ern eingeführt, an ihrem Höhepunkt machten sie mehr als 10 Milliarden Euro pro Jahr aus. Vor allem Frankreich wehrte sich gegen alle Veränderungen des Systems, besonders unter Jacques Chirac. Dem Bauernverband FNSEA gehörte damals beinahe ein Fünftel der Parlamentarier an, die Großbauern gehörten zu Chiracs Machtbasis.

Von den rund 40 Milliarden Euro, die das Agrarbudget der EU ausmachte (also nicht nur von den Exportförderungen), ging etwa ein Viertel nach Frankreich und davon noch einmal etwa die Hälfte an diese Klientel. Grob gerechnet erhielt damals ein Prozent der erwerbstätigen französischen Bevölkerung rund fünf Prozent des gesamten EU-Budgets (auf Basis der Zahlen von 2004). Mit solchen Subventionen war die französische Landwirtschaft am Weltmarkt natürlich in der Offensive und erzielte üppige Handelsüberschüsse.

Dieses System ist gefallen

Schritt für Schritt, Jahr für Jahr wurden Exportförderungen für Agrarprodukte abgebaut, immer war es ein harter Kampf. Heuer im Juli wurde eine hier kaum beachtete Mehrheitsentscheidung der Mitgliedsstaaten gegen den erbitterten Widerstand Frankreichs gefällt. Es wurde auch noch die letzte Exporterstattung für landwirtschaftliche Produkte gestrichen: jene für Geflügel. Noch im vergangenen Jahr wurden 265.000 Tonnen Geflügelfleisch beim Export von der EU gefördert, zu 95 Prozent Ware aus Frankreich. Auf Kosten der europäischen PartnerInnen und der Entwicklungsländer.

Im Senegal, der Elfenbeinküste oder wo auch immer haben lokale Bauern jetzt wieder eine Chance. Eine Chance, die sicher besser ist, als zu versuchen, mit einem Lkw-Wrack die Sahara zu durchqueren und sich dann auf ein überfülltes Schiff zu zwängen. Wir müssen mehr solcher Chancen eröffnen. (Leserkommentar, Michel Reimon, derStandard.at, 4.11.2013)

Ausschnitt eines Beitrags von Michel Reimon


 
   
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