Davon auszugehen, eine kleine
In-Group beherrsche den Rest
der Bevölkerung, indem sie
mit List und Wahlversprechen
spaltet, ist erstens herrschafts-
analytisch beschämend schlicht
gedacht. Herrschaft besteht aus
komplexen Prozessen, in denen
Menschen auch mittels explizi-
ter oder impliziter Zustimmung
Gefolgschaft leisten. Es gibt
Unterwürfigkeit und Partizipa-
tion als eingefleischte Traditio-
nen, von denen letztlich auch
Bakunin schon wusste, dass sie
nicht eingeprügelt werden müssen,
sondern sich in einer Form
„geistiger und moralischer Ge-
wohnheit“ äußern.
Die Menschen müssen nicht
immer ausgetrickst oder ge-
zwungen werden, sie haben
meist auch selbst etwas vom
Mitmachen. Dass Menschen
protestieren und ihrem Unmut
Luft machen, ist damit gar nicht
ausgeschlossen. Aber es ist nicht
der Normal-,sondern der Ausnahmefall.
Zweitens ist „das Volk“ oder
sind die Armen, die Subalter-
nen oder wie auch immer man
die sozialstrakturell unten An-
gesiedelten auch nennen mag,
als Gruppe in sich viel zu hete-
rogen, als dass davon auszuge-
hen wäre, sie würden im Prinzip
eine gemeinsame Haltung tei-
len. Eine Haltung, die dann nur
durch die listigen Spaltungsstra-
tegien von oben entzweit würde.
Dass diese Haltung der großen
Mehrheit der Bevölkerung —
„Masse“, „Volk“, „die Leute“ —
dann auch noch emanzipatorisch
sein soll, ist als Grundannahme
drittens einfach auch empirisch
nicht zu halten.
Aus der Tatsache, dass Rebel-
lionen häufig von ganz norma-
len Leuten getragen werden, zu
schließen, ganz normale Leute
seien Rebellinnen und Rebellen,
wie etwa der libertäre Marxist
John Holloway es tut, ist ein
wunschtraumgenährter Unsinn.
Was ist mit all den Hausmeistern,
Busfahrern, Abteilungsleitern,
die ihr kleines geborgtes Reich
nach dem Muster großer Tyrannen
verwalten? Was mit der AfD-wählen-
den Kioskverkäuferin und den
ganz normalen, antisemitischen
Ultranationalist*innen in Büro,
Kirche und Fabrik? Was ist also
mit den Reaktionär*innen aller
Länder, die ja auch ganz norma-
1e Leute sind? Und manchmal
gerne Volksmusik hören.
In Momenten, in denen „das
Volk“ den Aufstand macht, wie
in Ecuador und in Chile im Ok-
tober 2019, fallen sie vielleicht
nicht so sehr ins Gewicht. Wenn
die reaktionären Leute und Mi-
lieus aber ausgeblendet werden,
wie eine große linke und anar-
chistische Tradition es tut, kann
über den Aufstieg des Ultrana-
tionalismus nichts Erklärendes
mehr gesagt werden.
Auch der Neoliberalismus, der
mit Unterstützung großer Teile
der Bevölkerungen (wenn auch
häufig gegen deren Interessen)
durchgesetzt wurde, kann ana-
Iytisch nicht begriffen werden.
Und politisch? Das Volk ist
selbstverständlich immer der
wichtigste Bezugspunkt für po-
litische Praxis: keine Partei, die
nicht beansprucht, es zu reprä-
sentieren. Weil das nie voll und
ganz gelingen kann — auch den
sogenannten Volksparteien nicht
- hatte die Anarchistin Simone
Weil einst für die „Abschaffung
der Parteien“ plädiert.
Ihre Ablehnung der Parteien be-
ruht aber auf der fragwürdigen
Behauptung, dass Parteien nie
dem Gemeinwohl dienen könnten,
weil sie immer nur Teile der
Bevölkerung vertreten — Partei
kommt von „pars“, Lateinisch
für „Teil“. Dem setzt sie ein
homogenes Ganzes entgegen,
das die Wahrheit verkörpert.
Und das kann sie nur tun vor
dem Hintergrund eines Vertrauen
darauf‚eben das „Volk“, von Grund
auf” emanzipatorisch gestimmt ist.
Ein Irrglaube, der Weil sogar
dazu veranlasst, jede Form des
„Partei-Ergreifens, der Stellung-
nahme für oder gegen etwas“
als Aktion gegen das Denken,
die Wahrheit und das Gemein-
wohl zu verurteilen.
Der Postanarchismus ergreift
Partei, und zwar nicht anders als
Anarchist*innen es in ihrer rund
180jährigen Geschichte immer
getan haben, für die Schwäch-
sten und Geknechteten, für die
Armen und die Subalternen. Am
besten natürlich: Nicht für sie,
sondern mit ihnen. Aber postan-
archistische Theorie und Praxis
verlässt sich eben nicht mehr
darauf, im „kleinen Mann“ oder
der "einfachen Frau" den Genossen
oder die Genossin zu treffen.
Auch wenn wir die antimperiali-
tische Bestimmung des Volkes
als kämpferische Einheit gegen
das Übel des globalen Kapitals
kennen, so wissen wir doch
auch von der nationalsozialisti-
schen Volksgemeinschaft, die
das Menschheitsverbrechen der
Shoah begangen hat. Auch da-
bei ziemlich vereinigt. Es gibt
keine Gewissheit im Hinblick
auf das „vereinigte Volk“ und
sein potenzieller „Sieg“ ist nicht
per se das Reich der Freiheit und
Gerechtigkeit.
Oskar Lubin