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Volk Aufständisch oder reaktionär?


Volk -

Aufständisch oder reaktionär?

 

Es sind die neoliberalen Spar-

 programme, die wachsende so-

ziale Ungleichheit, die die Men-

schen auf die Straße treiben: Im

Oktober 2019 demonstrieren In-

digene, Gewerkschaftsmitglie-

der und Studierende in Ecuador,

Auch in Chile gehen in diesem

Monat Hunderttausende auf die

Straße.

Die Herrschenden reagieren

jeweils mit brutaler Gewalt, in

Chile fahren erstmals seit der

Pinochet-Diktatur wieder Pan-

zer gegen Demonstrierende auf.

Repression schweißt zusammen,

die Proteste flauen nicht ab, im

Gegenteil. Und da ist sie wie-

der, auch in Ecuador, die Parole

aus den Zeiten der chilenischen

Militärdiktatur (1973-1990): „El

pueblo unido jamäs serä venci-

do!“ („Das vereinigte Volk wird

niemals besiegt werden“). Es

ist so berührend. Und doch so

Falsch.

Es ist großartig, dass so viele

unterschiedliche Leute gegen ein

Wirtschafts- und Sozialmodell

auf die Straße gehen, das mit-

tels Privatisierungs-, Deregulie-

rungs- und Austeritätspolitiken

dafür sorgt, dass die Armen

ärmer und immer prekäreren

Lebensverhältnissen ausgesetzt

werden, während kleine Eliten

sich bereichern. Der Slogan aber

und die Vorstellung, die mit ihm

transportiert. wird, sind höchst

problematisch. Er taucht nicht

nur in lateinamerikanischen

sozialen Bewegungen auf, son-

dem gehört insgeheim (und

manchmal auch ganz offen)

im Standardrepertoire Linker,

und auch anarchistischer Weltbil-

der: Hier das arme, ausgebeutete

Volk, das sich hüten muss, wie

Bakunin meinte, vor dem Staat

und der „Regierung der Gelehrten",

und dort die kleine

Clique reicher Herrschender.

Ist von diesen nur Unterdrückung

und Zwang zu erwarten, bil-

den jene den Pool, aus dem die

gerechte Welt erwächst. Dem-

entsprechend folgert etwa der

marxistisch-dekolonialistische

Philosoph Enrique Dussel pa-

radigmatisch, dass jedes Befrei-

ungsprojekt „von der Volkskul-

tur aus(gehen)" müsse.



Was ist problematisch an dieser Annahme?

 

Davon auszugehen, eine kleine

In-Group beherrsche den Rest

der Bevölkerung, indem sie

mit List und Wahlversprechen

spaltet, ist erstens herrschafts-

analytisch beschämend schlicht

gedacht. Herrschaft besteht aus

komplexen Prozessen, in denen

Menschen auch mittels explizi-

ter oder impliziter Zustimmung

Gefolgschaft leisten. Es gibt

Unterwürfigkeit und Partizipa- 

tion als eingefleischte Traditio-

nen, von denen letztlich auch

Bakunin schon wusste, dass sie

nicht eingeprügelt werden müssen,

sondern sich in einer Form 

„geistiger und moralischer Ge-

wohnheit“  äußern.

Die Menschen müssen nicht

immer ausgetrickst oder ge-

zwungen werden, sie haben

meist auch selbst etwas vom

Mitmachen. Dass Menschen

protestieren und ihrem Unmut

Luft machen, ist damit gar nicht

ausgeschlossen. Aber es ist nicht

der Normal-,sondern der Ausnahmefall.

Zweitens ist „das Volk“ oder

sind die Armen, die Subalter-

nen oder wie auch immer man

die sozialstrakturell unten An-

gesiedelten auch nennen mag,
als Gruppe in sich viel zu hete-

rogen, als dass davon auszuge-

hen wäre, sie würden im Prinzip

eine gemeinsame Haltung tei-

len. Eine Haltung, die dann nur

durch die listigen Spaltungsstra-

tegien von oben entzweit würde.

Dass diese Haltung der großen

Mehrheit der Bevölkerung —

„Masse“, „Volk“, „die Leute“ —

dann auch noch emanzipatorisch

sein soll, ist als Grundannahme

drittens einfach auch empirisch

nicht zu halten.

 

Aus der Tatsache, dass Rebel-

lionen häufig von ganz norma-

len Leuten getragen werden, zu

schließen, ganz normale Leute

seien Rebellinnen und Rebellen,

wie etwa der libertäre Marxist

John Holloway es tut, ist ein

wunschtraumgenährter Unsinn.

Was ist mit all den Hausmeistern,

Busfahrern, Abteilungsleitern,

die ihr kleines geborgtes Reich

nach dem Muster großer Tyrannen

verwalten? Was mit der AfD-wählen-

den Kioskverkäuferin und den

ganz normalen, antisemitischen

Ultranationalist*innen in Büro,

Kirche und Fabrik? Was ist also

mit den Reaktionär*innen aller

Länder, die ja auch ganz norma-

1e Leute sind? Und manchmal

gerne Volksmusik hören.

In Momenten, in denen „das

Volk“ den Aufstand macht, wie

in Ecuador und in Chile im Ok-

tober 2019, fallen sie vielleicht

nicht so sehr ins Gewicht. Wenn

die reaktionären Leute und Mi-

lieus aber ausgeblendet werden,

wie eine große linke und anar-

chistische Tradition es tut, kann

über den Aufstieg des Ultrana-

tionalismus nichts Erklärendes

mehr gesagt werden.

Auch der Neoliberalismus, der

mit Unterstützung großer Teile

der Bevölkerungen (wenn auch

häufig gegen deren Interessen)

durchgesetzt wurde, kann ana-

Iytisch nicht begriffen werden.

Und politisch? Das Volk ist

selbstverständlich immer der

wichtigste Bezugspunkt für po-

litische Praxis: keine Partei, die

nicht beansprucht, es zu reprä-

sentieren. Weil das nie voll und

ganz gelingen kann — auch den

sogenannten Volksparteien nicht

- hatte die Anarchistin Simone

Weil einst für die „Abschaffung

der Parteien“ plädiert.

Ihre Ablehnung der Parteien be-

ruht aber auf der fragwürdigen

Behauptung, dass Parteien nie

dem Gemeinwohl dienen könnten,

weil sie immer nur Teile der

Bevölkerung vertreten — Partei

kommt von „pars“, Lateinisch

für „Teil“. Dem setzt sie ein

homogenes Ganzes entgegen,

das die Wahrheit verkörpert.

Und das kann sie nur tun vor

dem Hintergrund eines Vertrauen

darauf‚eben das „Volk“, von Grund

auf” emanzipatorisch gestimmt ist.

Ein Irrglaube, der Weil sogar

dazu veranlasst, jede Form des

„Partei-Ergreifens, der Stellung-

nahme für oder gegen etwas“

als Aktion gegen das Denken,

die Wahrheit und das Gemein-

wohl zu verurteilen.

 

Der Postanarchismus ergreift

Partei, und zwar nicht anders als

Anarchist*innen es in ihrer rund

180jährigen Geschichte immer

getan haben, für die Schwäch-

sten und Geknechteten, für die

Armen und die Subalternen. Am

besten natürlich: Nicht für sie,

sondern mit ihnen. Aber postan-

archistische Theorie und Praxis

verlässt sich eben nicht mehr

darauf, im „kleinen Mann“ oder

der "einfachen Frau" den Genossen

oder die Genossin zu treffen.

 

Auch wenn wir die antimperiali-

tische Bestimmung des Volkes

als kämpferische Einheit gegen

das Übel des globalen Kapitals

kennen, so wissen wir doch

auch von der nationalsozialisti-

schen Volksgemeinschaft, die

das Menschheitsverbrechen der

Shoah begangen hat. Auch da-

bei ziemlich vereinigt. Es gibt

keine Gewissheit im Hinblick

auf das „vereinigte Volk“ und

sein potenzieller „Sieg“ ist nicht

per se das Reich der Freiheit und

Gerechtigkeit.

 

Oskar Lubin

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


 
   
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